DENK-MAL
die handvoll sand
das leben
die handvoll sand
der tod
Man muss also die Wichtigkeit der Leere begreifen. Das was das Universum trägt und erhält, ist die Leere in der Schrift, ist die Leere der Abwesenheit, die Weisse. Das geschriebene Wort ist aus der Leere gemacht. Man braucht einen Raum der Leere, der Stille zwischen einem Wort und einem anderen, damit die Worte lesbar sind.
Edmond Jabès
Es ist ein schwer erträglicher gedanke, dass die leere, die unabänderlich und unwiderruflich das ende menschlichen lebens markiert, mit der bedingung zusammenfällt, die abwesende person wieder zum teil der kommunikation werden zu lassen. Dass erst die für die kommunikation unausweichlich nötige leere die bedingung für eine artikulation – und sei sie noch so hilflos – schafft, die die geste des beraubten atems übersteigt.
Merkwürdig bleibt, dass das wort, ehe es denn artikuliert, schliesslich im vollen sinne „gesagt“ werden kann, schon geschrieben wurde, dass das buch noch ehe es zur schrift wird, die ambivalenz des ausgangs aus der leere (ohne sie zu verlassen oder zu leugnen) ein „Presque-rien“ (Valdimir Jankélévitch) erzeugt, das eher dem klang angehört als dem artikulierten wort. Deshalb ermangelt die musik des wortes, denn dieser mangel, der sie an die leere bindet, ist der schmale grat, der zwischen leere und wort gleichsam ungestalt und auf keinen fall fassbar, den schritt zur kommunikation jenseits der schrift artikulieren lässt.
Musiker sind zeugen für diesen unhaltbaren grat. Ihre arbeit reicht deshalb tiefer und weiter als es das artikulierte wort könnte. Aber sie zahlen dafür einen hohen preis: nichts lässt sich weniger festhalten und der leere entreissen als die musik.
- Wohin gehst du Meister?
- Ich weiss nicht, sage ich. Ich will nichts als von hier fort, ohne Unterlass von hier fortgehen, nur so kann ich mein Ziel erreichen.
- Also kennst Du Dein ziel?
- Ja, antwortete ich, habe ich es Dir nicht schon gesagt? Von hier fortgehen ist mein Ziel.
Franz Kafka
Herbert Henck hat sich intensiv mit komponisten und werken beschäftigt, die von den mächtigen und von mit ihnen im gleichschritt marschierenden ihrer zeit (manche vor ihnen marschieren noch heute in diesen reihen) ausgelöscht werden sollten. Ihre rettung erweist sich also immer wieder und immer noch als eine „rettung auf zeit“. Was wissen wir, ob s eine lebensperspektive gibt für sie? Dass dieser einsatz von Herbert Henck aber eine zwingende notwendigkeit für das überleben als künstler war, zeigt sich gerade dort, wo die äusseren umstände solche befürchtungen scheinbar obsolet haben werden lassen. Wer wäre wohl unangefochtener als Johann Sebastian Bach? Aber gerade dessen werk ist der beweis, dass kunst und künstler nicht nur in gefahr sind von mächtigen und ihren mitmarschierern ausgelöscht zu werden, sondern, dass ihr andenken und ihr werk noch vollständiger ausgelöscht werden kann, indem es im schlimmsten sinne des wortes benutzt wird. Herbert Henck – der, wie manche anderen musiker, die sich der musik ihrer gegenwart verpflichtet fühlten – hat deshalb in weit ausgreifendem und langdauerndem nachdenken immer wieder nach möglichkeiten der vergegenwärtigung auch und gerade der musik Bachs, die in der unvermeidlichen interpretation von arbeit und denken des abwesenden respekt zollte und schutz gab. Die musik ist immer wehrlos. Wie wir wissen, lässt sie sich vom einfachsten lied bis zur vollendetsten kunst schamlos bis zur widerwärtigkeit entstellen – was anderes also können wir tun, als zeugnis dafür abzulegen, dass bei aller wehrlosigkeit mensch und kunst auch die schlimmsten verbrechen an ihnen nichts als die niederlage versuchter aneignung und zersetzung offenbar machen.
Sein ist fragen.
Es ist fragen im Labyrinth der dem Anderen und Gott gestellten, die keine Antwort hat.
Edmond Jabès
Herbert Henck hat sich angelegentlich um das erbe des schwäbischen pastors Johann Ludwig Fricker, der – vielleicht auch weil er sehr früh verstarb – heute kaum noch ausserhalb pietistischer kreise württembergs bekannt ist. Dieser als eher wortkarg beschriebene geistliche, zu dessen erbauungsstunden nichtsdestotrotz häufig mehr als hundert zuhörer kamen, war nicht nur ein begnadeter handwerker (was es ihm erlaubte, mit bedeutenden naturwissenschaftlern seiner zeit zu korrespondieren und zusammenzuarbeiten), er war ein so gut gebildeter mathematiker, dass er in der lage war, sich mit Euler über seine musiktheoretischen überlegungen auszutauschen. Wie sein weitaus bekannterer mentor Friedrich Christoph Oetinger gehört auch Fricker zu einer heute weitestgehend vergessenen gruppe von gelehrten, die an der schwelle zur aufklärung in der zweiten hälfte des 18. jahrhunderts nicht gewillt waren, sich in die schützengräben zwischen „wissenschaft“ und aufkommendem atheismus einerseits oder einem nicht einma rückwärtsgewandten obskurantismus geistiger und geistlicher engstirnigkeit, ja dummheit zwingen zu lassen. Oetinger wie auch Fricker waren in ihrem bestehen auf einem alle menschen umfassenden und ergreifenden „sensus communis“ propheten für ein noch immer ausstehendes, im wahrsten sinne menschenwürdiges gespräch, das alle ideologischen teilungen und verblendungen, alle religiösen hass- und national oder sonstwie begründeten zerstörungs- und vernichtungsphantasien als wahnvorstellungen kenntlich macht, weil nichts und niemand jeden menschen: frau oder mann, kind oder greis, hell-, dunkel- oder sonstwie häutig, gläubig oder ungläubig von der einigenden wirkung des sensus communis ausschliessen kann. Das Herbert Henck auf diese über die selbstaufforderung und selbstermächtigung der aufklärung noch hinausgehende tradition der wahrheit aufmerksam gemacht sollte ihm nicht weniger gedankt werden, als sein einsatz für musik und klang in all seinen facetten. Wenn also jetzt und immer wieder der name Herbert Henck artikuliert wird, so auch und vor allem als zeuge wahrheit als notwendiger vorbedingung, den schritt von der leere zur artikulation in klang und wort verantwortungsvoll tun zu können.
Es wird immer nur ein einziges dem Feuer versprochenes Buch geben, dem alle Bücher geweiht sind. So schreibt sich die Zeit ein in die Aschen der Zeit und das Buch Gottes in die verrückten Flammen unserer Bücher.
Edmond Jabès
die handvoll sand
der tod
die handvoll sand
das leben
für Herbert Henck
jakob ullmann, naumburg januar 2025